Aus: Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, Berlin 1998
Kapitel 8
Die Tauglichkeit der menschlichen Natur
Was ist unter »menschlicher Natur« zu verstehen? Sie ist weder die Summe der präskriptiven Gene noch die ihres Endprodukts Kultur. Die menschliche Natur ist etwas, für das wir noch keine passende Bezeichnung gefunden haben. Sie wird von den epigenetischen Regeln, jenen ererbten Regelmäßigkeiten unserer geistigen Entwicklung bestimmt, welche die kulturelle Evolution in die eine oder andere Richtung lenken und somit die Gene mit Kultur verknüpfen.
Der Begriff ist deshalb so schwer zu definieren, weil unser Verständnis der epigenetischen Regeln, aus denen die menschliche Natur sich zusammensetzt, bislang nur rudimentär ist. Die Regeln, die ich in den vorangegangenen Kapiteln beispielhaft genannt habe, sind nur fragmentarische Ausschnitte aus der unendlichen Weite unserer geistigen Landschaft. Da sie aber aus so unterschiedlichen Verhaltenskategorien stammen, sind sie ein überzeugender Hinweis darauf, daß es so etwas wie eine menschliche Natur gibt, die auf Genen basiert. Man mache sich nur einmal die Bandbreite der bisher beispielhaft erwähnten Regeln klar: das halluzinatorische Moment von Träumen, die mit Faszination verbundene Angst vor Schlangen, die Konstruktion von Phonemen, die elementaren Vorlieben des Geschmackssinnes, das Entstehen der Bindung zwischen Mutter und Kind, die Grundformen des Gesichtsausdrucks, die Reifikation von Begriffen und die Vermenschlichung von unbeseelten Gegenständen oder die Tendenz, ständig wechselnde Objekte und Prozesse in duale Klassen einzuteilen. Eine weitere Regel - die Brechung des Lichts in die Farben des Regenbogens -wurde bereits in ihrem gesamten Kausalzusammenhang von den Genen bis zur Erfindung eines Vokabulars nachvollzogen und kann damit der künftigen Forschung als Prototyp beim Brückenbau zwischen Natur- und Geisteswissenschaften dienen.
Es gibt epigenetische Regeln, darunter die für unsere Farbsicht, die jahrmillionenalte Primatenmerkmale sind. Andere, wie die zu Sprache befähigenden Nervenmechanismen, sind hingegen
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ausschließlich auf den Menschen beschränkt und vermutlich erst vor einigen hunderttausend Jahren entstanden. Die Suche nach der menschlichen Natur ist gleichsam die Archäologie der epigenetischen Regeln, und sie wird ein entscheidender Schwerpunkt bei der künftigen interdisziplinären Forschung sein.
Nach dem herrschenden Verständnis von Biologen und Sozialwissenschaftlern setzen sich bei der genetisch-kulturellen Koevolution die Kausalereignisse wellenartig von den Genen über die Zellen und das Gewebe bis in das Gehirn und schließlich das Verhalten fort. Durch ihre Interaktionen mit der materiellen Umwelt und bereits vorhandener Kultur beeinflussen sie die künftige kulturelle Evolution. Doch diese Sequenz -also das, was die Gene über Epigenese in Kultur einfließen lassen - ist nur die eine Hälfte des Kreises. Die andere ist markiert durch den Einfluß, den Kultur auf die Gene hat. Aus diesem zweiten koevolutionären Halbkreis ergibt sich nun die Frage, wie Kultur zu der Auslese derjenigen mutierenden und sich rekombinierenden Gene beiträgt, die der menschlichen Natur zugrunde liegen.
Wenn ich die genetisch-kulturelle Koevolution hier auf einen derart einfachen Nenner bringe, so will ich damit weder die Metapher des egoistischen Gens überstrapazieren noch die schöpferischen Kräfte des Geistes abwerten. Schließlich sind auch Gene, die die epigenetischen Regeln des Gehirns und des Verhaltens bestimmen, nur Segmente gigantischer Moleküle. Sie fühlen nichts, sorgen sich um nichts und beabsichtigen nichts. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, die chemische Reaktionskette in den kompliziert strukturierten, befruchteten Zellen auszulösen, welche die Epigenese orchestrieren. Ihr Einfluß beschränkt sich auf die Ebene von Molekülen, Zellen und Organen. Dieses frühe, aus der Verkettung physikalisch-chemischer Reaktionen bestehende Stadium der Epigenese kulminiert schließlich in der Selbstorganisation des Sinnessystems und des Gehirns. Erst wenn der Organismus vollendet ist, setzt die geistige Aktivität als emergenter Prozeß ein. Das Gehirn ist ein Produkt der höchsten biologischen Ordnungsebenen; die wiederum von den epigenetischen Regeln eingegrenzt werden, die der Anatomie und Physiologie des Organismus eingeschrieben sind. Das Gehirn verarbeitet eine chaotische Flut von Umweltreizen, sieht, hört, lernt und plant seine eigene Zukunft. Dadurch bestimmt es auch das Schicksal der Gene, die seinen eigenen Aufbau festgelegt haben. Aus Sicht der gesamten evolutionären Zeit betrachtet, ist es also die Summe der von vielen Gehirnen getroffenen Entscheidungen, die das Darwinsche Schicksal alles
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Menschlichen bestimmt - der Gene, der epigenetischen Regeln, des kommunizierenden Verstandes und der Kultur.
Gehirne, die kluge Entscheidungen treffen, besitzen eine im Darwinschen Sinne überlegene Tauglichkeit. Sie überleben statistisch gesehen länger und hinterlassen mehr Nachkommenschaft als Gehirne, die schlechte Entscheidungen treffen. Diese Generalisierung, die gewöhnlich mit der Formel »Überleben des Stärksten« zusammengefaßt wird, klingt wie eine Tautologie - die Stärksten überleben, und diejenigen, die überleben, sind die Stärksten. Dennoch kommt darin ein mächtiger und in der Natur wohldokumentierter Entstehungsprozeß zum Ausdruck. Im Verlauf mehrerer hunderttausend Jahre paläolithischer Geschichte haben sich Gene, die bestimmte epigenetische Regeln festlegen, vermehrt und auf Kosten anderer Gene durch natürliche Auslese unter der Spezies Menschverbreitet. Mit diesem ausgeklügelten Prozeß hat sich die menschliche Natur selbst konstruiert.
Absolut einzigartig bei der Evolution des Menschen - etwa im Gegensatz zur Evolution des Schimpansen oder des Wolfs - ist, daß die Umwelteinflüsse, die dabei eine Rolle spielten, zu großen Teilen kultureller Natur waren. Die Kultur leistet also ihren Beitrag zu den verhaltensbestimmenden Genen über den Aufbau eines bestimmten Umfelds. Mitglieder vergangener Generationen, die das Beste aus ihrer Kultur für sich herausholten, so wie Sammler, die die beste Nahrung aus dem nächstgelegenen Wald herausholen, genossen demnach auch im Darwinschen Sinne den größten Vorteil. Im Verlauf der Prähistorie vermehrten sich ihre Gene und veränderten Schritt für Schritt die Schaltkreise im Gehirn und Verhaltensmerkmale, bis die menschliche Natur in ihrer heutigen Form entstanden war. Dabei spielten natürlich auch historische Zufälle eine Rolle, und im übrigen gab es viele Ausdrucksformen von epigenetischen Regeln, die sich als selbstzerstörerisch erwiesen. Aber im großen und ganzen war die natürliche Auslese über lange Zeit hinweg die treibende Kraft der menschlichen Evolution. Die menschliche Natur ist anpassungsfähig oder war es zumindest zur Zeit ihres genetischen Ursprungs.
Fast sieht es so aus, als schaffe die genetisch-kulturelle Evolution ein Paradox - Kultur entsteht durch menschliches Handeln, und gleichzeitig entsteht menschliches Handeln durch Kultur. Dieser Widerspruch löst sich jedoch sofort auf, wenn wir die Conditio humana mit der einfacheren Reziprozität vergleichen, die so oft im Tierreich zwischen Umwelt und Verhalten zu entdecken ist.
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Afrikanische Elefanten schaffen sich selber die offene Waldung, in der sie am besten gedeihen, indem sie die Blätter und Triebe einer großen Anzahl von Bäumen und Büschen verzehren. Die Termiten zu ihren Füßen verzehren die übriggebliebene, abgestorbene Vegetation und errichten festzementierte Bauten aus Erde und ihren eigenen Exkrementen, um das hochgradig kohlenstoffdioxidhaltige Mikroklima zu erzeugen, an das ihre Physiologie - wen überrascht es! - bestens angepaßt ist. Um uns vorzustellen, wie sich der Mensch im Pleistozän inmitten des Lebensraums von Elefanten und Termiten entwickelt hat, brauchen wir lediglich Umwelt zum Teildurch Kultur zu ersetzen. Denn auch wenn Kultur - strikt als komplexes, sozial erlerntes Verhalten definiert - offensichtlich auf den Menschen beschränkt ist und daher auch die Reziprozität zwischen Genen und Kultur/Umwelt einzigartig bleibt, ist das zugrundeliegende Prinzip dasselbe. Die Aussage, daß Kultur durch menschliches Handeln und menschliches Handeln durch Kultur entsteht, ist daher nicht im geringsten widersprüchlich.
Die biologische Sichtweise der Entstehung der menschlichen Natur hat so manchen Denker abgestoßen, darunter auch einige der scharfsinnigsten Sozial- und Geisteswissenschaftler. Doch ich bin mir sicher, daß ihre Einwände auf einer falschen Voraussetzung basieren. Sie mißverstehen die genetisch-kulturelle Koevolution, weil sie sie mit rigidem genetischen Determinismus verwechseln, mit jener diskreditierten Vorstellung also, daß Gene bestimmte Kulturformen regelrecht diktieren. Ich glaube, die verständlichen Sorgen über eine solche Interpretation können mit der folgenden Darstellungzerstreut werden. Gene legen keine Konventionen wie etwa Totemismus, die Bildung eines Ältestenrats oder religiöse Zeremonien fest. Meines Wissens nach hat das auch noch kein ernstzunehmender Natur-oder Geisteswissenschaftler behauptet. Richtig aber ist, daß diverse Gruppen von genetisch bedingten epigenetischen Regeln den Menschen dazu prädisponieren, solche Konventionen zu erfinden und zu übernehmen. Wenn diese epigenetischen Regeln mächtig genug sind, führen sie dazu, daß sich die von ihnen ausgelösten Verhaltensweisen übereinstimmend in vielen verschiedenen Gesellschaften entwickeln. Solche von der Kultur initiierten und von den epigenetischen Regeln beeinflußten Konventionen werden dann kulturelle Universalien genannt. Aber auch kulturelle Ausprägungen, die sich nicht verbreiten, sind nach diesem Prinzip möglich. Man kann das Ganze auch deutlich machen, indem man zu den Vorstellungen der Entwicklungsgenetik zurückkehrt:
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Die Reaktionsnorm der verantwortlichen Gene ist im Fall einer kulturellen Universalie stark eingegrenzt. Mit anderen Worten, die Konvention kann in nahezu jeder dem Menschen zur Verfügung stehenden Umweltform entstehen. Gene hingegen, die auf Umweltveränderungen mit der Erzeugung von vielen einzeln auftretenden Konventionen reagieren und damit die kulturelle Vielfalt erweitern, sind immer solche, die eine größere Reaktionsnorm haben.
Die genetische Evolution hätte auch in die entgegengesetzte Richtung führen können, wenn sie den Einfluß der Epigenese eliminiert, die Reaktionsnorm der präskriptiven Gene unendlich erweitert und damit zu einer explosionsartigen Entwicklung von kultureller Vielfalt geführt hätte. Theoretisch ist das möglich, aber die Tatsache, daß dies als phänomenologische Möglichkeit existiert, bedeutet nicht, daß Kultur vom menschlichen Genom getrennt werden könnte. Es besagt nur, daß die präskriptiven Gene in der Lage sind, das Gehirn so zu entwerfen, daß es auf jede Erfahrung mit derselben Lernfähigkeit und Bereitwilligkeit reagiert. Völlig unbeeinflußtes Lernen, wenn das überhaupt vorstellbar ist, würde die genetisch-kulturelle Koevolution nicht ausradieren, sondern wäre selber ein äußerst spezialisiertes und auf einer sehr seltsamen epigenetischen Regel basierendes koevolutionäres Produkt. Doch es ist müßig, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, denn bisher hat man noch kein einziges Beispiel für eine völlig unbeeinflußte geistige Entwicklung gefunden. In jeder der wenigen kulturellen Kategorien, die bisher auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines epigenetischen Einflusses untersucht wurden, konnte er in einem gewissen Ausmaß nachgewiesen werden.
Nun könnte man die Geschwindigkeit, mit der die kulturelle Evolution in historischer Zeit stattgefunden hat, als ein Zeichen dafür werten, daß es die Menschheit irgendwie geschafft habe, ihren genetischen Vorschriften zu entkommen oder sie zu unterlaufen. Aber das ist reine Illusion. Alle archaischen Gene nehmen, ebenso wie die von ihnen festgelegten epigenetischen Verhaltensregeln, nach wie vor ihren angestammten Platz ein. In fast der gesamten Evolutionsgeschichte des Homo sapiens und seiner Vorgänger Homo habilis, Homo erectus und Homo ergaster verlief die kulturelle Evolution langsam genug, um eng mit der genetischen Evolution verbunden zu bleiben. Sowohl Kultur als auch die der menschlichen Natur zugrundeliegenden Gene hatten sich vermutlich während dieser ganzen Periode als genetisch tauglich erwiesen.
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In den Zehntausenden von Jahren des Pleistozäns wurden kaum neue Artefakte entwickelt, und die Sozialstruktur der Sammler und Jäger, die sie benutzten, verharrte vermutlich ebenso statisch. Während ein Jahrtausend ins andere überging, blieb also genügend Zeit, damit sich die Gene und epigenetischen Regeln in Übereinstimmung mit Kultur entwickeln konnten. In der späten Altsteinzeit jedoch, ungefähr 40 000 bis 10 000 Jahre vor unserer Zeit, beschleunigte sich das Tempo der kulturellen Evolution, und mit den agrikulturellen Errungenschaften der folgenden Jungsteinzeit begann die Geschwindigkeit dramatisch zuzunehmen. Nach Auffassung der Populationsgenetiker ging dieser Wandel einfach viel zu schnell, als daß die genetische Evolution ihn noch hätte einholen können. Aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß die paläolithischen Gene während dieser »schöpferischen Revolution« einfach verschwunden wären. Sie blieben, wo sie waren, und legten weiterhin die Grundregeln der menschlichen Natur fest. Sie konnten zwar nicht Schritt mit der Kultur halten, aber die Kultur konnte sie auch nicht ausradieren. Zum Guten wie zum Schlechten trugen sie die menschliche Natur in das Chaos der modernen Geschichte.
So gesehen ist es nur klug, bei der Erforschung des menschlichen Verhaltens auch verhaltensbestimmende Gene einzukalkulieren. Die Soziobiologie (Darwinsche Anthropologie, Evolutionspsychologie oder wie immer man dieses Fachgebiet politisch korrekt nennen möchte ist ein entscheidendes Glied bei dem Versuch, die biologischen Grundlagen der menschlichen Natur zu erklären. Und da diese Disziplin evolutionstheoretische Fragen stellt, hat sie die anthropologische und psychologische Forschung bereits in ganz neue Richtungen gelenkt. Ihre wesentliche Forschungsstrategie besteht darin, bei der Vorhersage von sozialen Verhaltensweisen, welche zu bestmöglicher Tauglichkeit im Darwinschen Sinne führen, von den Grundsätzen der Populationsgenetik und Reproduktionsbiologie auszugehen. Überprüft werden die Vorhersagen dann anhand von Daten aus ethnographischen Archiven, historischen Zeugnissen und neuesten, explizit zu diesem Zweck entwickelten Feldstudien. Für einige dieser Tests werden ungebildete oder in anderer Hinsicht traditionell gebliebene Gesellschaften herangezogen, deren konservative Sozialpraktiken denjenigen ihrer paläolithischen Vorfahren wahrscheinlich am nächsten kommen. Einige wenige Gesellschaften in Australien, Neuguinea und Südamerika befinden sich tatsächlich noch auf der Ebene von Steinzeitkulturen, und sind daher für Anthropologen natürlich von besonderem Interesse.
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Andere Tests werden anhand von Daten aus modernen Gesellschaften vorgenommen, deren kulturelle Normen aufgrund ihrer schnellen Entwicklung möglicherweise über keine optimale Tauglichkeit im Darwinschen Sinne mehr verfügen. Bei beiden Studien wird das gesamte Arsenal an analytischen Techniken zum Einsatz gebracht -mehrfachkonkurrierende Hypothesen, mathematische Modelle, statistische Analysen und sogar die Rekonstruktion der Meinen und kulturellen Konventionen mit denselben quantitativen Verfahrensweisen, die eingesetzt werden, um die Evolution von Genen und Spezies nachzuzeichnen.
In den letzten 25 Jahren hat sich die Soziobiologie zu einem umfassenden und technisch komplexen Fachbereich entwickelt. Dennoch ist es möglich, ihre Hauptprinzipien bei der Evolutionsforschung auf die folgenden sechs Kategorien zu reduzieren:
Sippenauslese ist die natürliche Auslese von Genen auf Basis sowohl der Effekte, die sie auf ihre Träger, als auch der Effekte, die sie auf alle genetischen Verwandten haben - Eltern, Kinder, Geschwister, Vettern und alle anderen lebenden Blutsverwandten, die entweder zur Reproduktion fähig sind oder in der Lage, auf die Reproduktion ihrer Blutsverwandten Einfluß zu nehmen. Sippenauslese ist besonders gut geeignet, die Evolution von altruistischem Verhalten nachzuvollziehen. Wenn Handlungsweisen genetisch festgelegt sind und häufig auftauchen, können sich die entsprechenden Gene in der Population verbreiten, selbst wenn das bedeutet, daß einzelne Individuen ihren individuellen Vorteil unterordnen müssen. Anhand dieser einfachen Prämisse und ihren Erweiterungen wurden bereits unzählige Voraussagen über die Muster von Altruismus, Patriotismus, Ethnizität, Erbschaftsregeln, Adoptionspraktiken und Kindesmord abgeleitet. Viele davon waren neu, aber die meisten hielten der Überprüfung stand.
Elterliche Investition bezeichnet das Verhalten gegenüber den eigenen Kindern, das deren Tauglichkeit auf Kosten der elterlichen Fähigkeit steigert, in weitere Kinder zu investieren. Die verschiedenen Muster dieser Investition wirken sich auf die Tauglichkeit derjenigen Gene aus, die Individuen dazu prädisponieren, sich für eines dieser Muster zu entscheiden - wähle das eine, und du hinterläßt mehr Nachkommenschaft; wähle das andere, und du hinterläßt weniger Nachkommenschaft. Diese Vorstellung führte zu einer biologisch gestützten »Familientheorie«, aus der sich neue Erkenntnisse ergaben über die Sexualproportion (das demographisch definierte Zahlenverhältnis beider Geschlechter), Eheverträge, Eltern-KindKonflikte, Trauer beim Verlust eines Kindes, Kindesmißbrauch und Kindesmord.
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Im nächsten Kapitel werde ich diese Familientheorie nochmals aufgreifen, um zu verdeutlichen, welche Relevanz eine solche evolutionsgeschichtliche Orientierung für die Sozialwissenschaften hat.
Paarungsstrategien werden von der entscheidenden Tatsache beeinflußt, daß es für Frauen bei sexueller Aktivität um mehr geht als für Männer, weil sie nur begrenzte Zeit für die Reproduktion zur Verfügung haben und jedes Kind erneut enorme Investitionen von ihnen fordert. Ein Ei, um das Ganze in seinem ursächlichen Zusammenhang darzustellen, ist weit mehr wert als ein Spermium, welches mit Millionen anderer Spermien um das Ei konkurrieren muß. Die Schwangerschaft verhindert für eine beträchtliche Zeitspanne der verbleibenden Fortpflanzungsfähigkeit der Mutter jede weitere Empfängnis, wohingegen der Vater über die physische Kapazität verfügt, nahezu sofort eine andere Frau zu schwängern. Dieses Konzept mit all seinen Nuancen legten Wissenschaftler erfolgreich zugrunde, um die Muster von Partnerwahl und -werbung, die relativen Abstufungen von sexueller Freizügigkeit, Vaterschaftsängste, die Behandlung von Frauen als Mittel zum Zweck, und Polygynie vorauszusagen (die früher bei mindestens drei Vierteln aller Gesellschaften akzeptierte Vielweiberei). Der »optimale Sexualinstinkt« von Männern - diese Bezeichnung hat sich in der populärwissenschaftlichen Literatur durchgesetzt - fordert dazu auf, bejahend und allzeit bereit zu sein, der von Frauen hingegen, zurückhaltend und wählerisch zu bleiben. Männer fühlen sich erwartungsgemäß stärker zu Pornographie und Prostitution hingezogen als Frauen, und bei der Partnerwerbung legen sie vorhersagbar größeren Wert auf exklusiven sexuellen Zugang und garantierte Vaterschaft, wohingegen Frauen durchweg auf ihrem Anteil an den Ressourcen und materieller Sicherheit bestehen.
Status steht im Mittelpunkt aller komplexen Säugetiergesellschaften, die Menschheit eingeschlossen. Die Aussage, daß Menschen allgemein um Status bemüht sind, sei es bei ihrer gesellschaftlichen Position oder im Zusammenhang mit Klassenzugehörigkeit und Wohlstand, faßt einen Großteil des Kataloges menschlichen Sozialverhaltens zusammen. In traditionellen Gesellschaften wird die genetische Tauglichkeit des einzelnen häufig, aber nicht immer mit seinem Status verbunden. Vor allem in feudal und despotisch strukturierten Staaten haben dominante Männer leichten Zugang zu mehreren Frauen gleichzeitig und zeugen daher meist auch unverhältnismäßig mehr Kinder.
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Im Verlauf der gesamten Geschichte verlangten Despoten immer Zugang zu Hunderten oder sogar Tausenden von Frauen. In solchen Staaten herrschten sogar oft genaue Zuteilungsregeln. Bei den peruanischen Inkas standen Stammesfürsten beispielsweise sieben Frauen prohundert Untertanen zu, Gouverneuren acht von je hundert, Führern fünfzehn von je tausend und Adeligen und Königen nicht weniger als jeweils siebenhundert. Gewöhnliche Sterbliche nahmen, was übrigblieb. Entsprechend ungleich war natürlich auch Vaterschaftverteilt. In den modernen Industriestaaten ist das Verhältnis zwischen Status und genetischer Tauglichkeit weniger eindeutig. Anhand von Daten läßt sich zwar feststellen, daß auch hier der höhere Status eines Mannes mit längerer Lebensdauer und mehr Geschlechtsbeziehungen als üblich verbunden wird, aber nicht unbedingt auch damit, mehr Kinder zu zeugen.
Der Drang zu territorialer Expansion und Verteidigung durch Stämme und ihre modernen Äquivalente, die Nationalstaaten, ist eine kulturelle Universalie. Ihr Beitrag zur Sicherung des Überlebens und der künftigen Reproduktionsfähigkeit - vor allem von Stammesfürsten - ist ebenso überwältigend wie der kriegerische Imperativ der Stammesverteidigung. »Our country!«, deklamierte Kommmodore Stephen Decatur, der kampflüsterne amerikanische Kriegsheld von 1812, »may she always be right; but our country, right or wrong.« (Individueller Aggressivität sind jedoch offenbar Darwinsche Grenzen gesetzt -Decatur wurde 1820 bei einem Duell getötet.)
Biologen fanden allerdings heraus, daß Territorialverhalten im Laufe der sozialen Evolution nicht unvermeidlich auftritt. Ganz offensichtlich gibt es viele Tierarten, die nicht den geringsten Territorialinstinkt haben, denn er entsteht im Laufe einer Evolution nur dann, wenn irgendeine lebenswichtige Ressource zum dichtebestimmenden Faktor wird: Das Wachstum der Bevölkerungsdichte verlangsamt sich zunehmend, weil immer größerer Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser oder geeigneten Brutstätten herrscht oder sich der Umfang des Gebiets verringert, das den einzelnen auf der Suche nach diesen Ressourcen zugänglich ist. Die Mortalitätsrate steigt oder die Geburtenrate sinkt oder beides, bis beide wieder mehr oder weniger im Gleichgewicht sind und sich die Bevölkerungsdichte auf einem niedrigeren Niveau eingependelt hat. Unter solchen Umständen tendieren Tierarten dazu, Territorialverhalten zu entwickeln. Erklärt wird das mit der Theorie, daß Individuen mit der erblichen Veranlagung, ihre eigenen Ressourcen und die der sozialen Gruppe zu verteidigen, mehr Gene an die nächste Generation weitergeben als andere.
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Populationswachstum wird aber nicht nur durch Ressourcenknappheit begrenzt, sondern kann auch durch verstärkte Abwanderung, Krankheiten oder Raubtiere gestoppt werden oder sogar zurückgehen. Wenn solche dichtebestimmenden Faktoren überwiegen und es daher nicht um eine Kontrolle der Ressourcen geht, bildet sich normalerweise auch kein territorialer Verteidigungsinstinkt als Erbreaktion heraus.
Die Menschheit ist eindeutig eine territoriale Spezies. Da die Kontrolle von begrenzten Ressourcen in allen Jahrtausenden der evolutionären Zeit eine Frage von Leben und Tod war, ist territoriale Aggression als Verhaltensmuster weit verbreitet und hat oft mörderische Reaktionen hervorgerufen. Es wäre tröstlich zu sagen, daß Krieg vermieden werden kann, weil er kulturellen Ursprungs ist. Doch bedauerlicherweise ist diese Erkenntnis des gesunden Menschenverstands nicht die ganze Wahrheit. Sehr viel korrekter und klüger wäre nämlich die Aussage, daß Krieg sowohl genetisch als auch kulturell bedingt ist und am besten vermieden werden kann, indem man so gut wie möglich zu verstehen lernt, auf welche Weise diese beiden Vererbungsformen im unterschiedlichen historischen Kontext interagieren.
Vertragsbildung bestimmt das menschliche Sozialverhalten derart weitreichend und selbstverständlich, daß sie keine besondere Aufmerksamkeit mehr auf sich zu ziehen pflegt -bis etwas schiefläuft. Doch aus einem bestimmten Grund gebührt auch diesem Sozialphänomen eine genauere wissenschaftliche Erforschung. Alle Säugetiere, auch der Mensch, bilden ihre Gesellschaften auf Basis einer Vereinigung von rein egoistischen Interessen. Im Gegensatz zu den Arbeiterkasten der Ameisen und anderen sozialen Insekten weigern sie sich, ihren Körper und ihre Dienste dem Wohle aller unterzuordnen. Sie widmen ihre Energien lieber dem eigenen Wohlergehen und dem der engsten Verwandtschaft. Für Säugetiere ist Sozialleben eine Einrichtung zur Förderung des eigenen Überlebens- und Reproduktionserfolges. Daher kommt es, daß nichtmenschliche Säugetiergesellschaften weit weniger organisiert sind als Insektengesellschaften und eher von einer Kombination aus Dominanzhierarchie, rapide wechselnden Allianzen und Blutsbanden abhängig sind. Nur der Mensch ist darüber hinausgegangen und hat seine soziale Organisationsstruktur verbessert, indem er mittels langfristiger Verträge auch zu Nichtverwandten verwandtschaftsartige Beziehungen eingeht.
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Vertragsbildung ist mehr als nur eine kulturelle Universalie. Sie ist ein ebenso charakteristisches Kennzeichen unserer Spezies wie Sprache und abstraktes Denken -hervorgebracht von sowohl Instinkt als auch hoher Intelligenz. Dank der bahnbrechenden Experimente der Psychologen Leda Cosmides und John Tooby an der University of California in Santa Barbara wissen wir, daß Vertragsbildung nicht einfach nur das Produkt einer einzigartigen Rationalität ist, die die Fähigkeit, Verträge abzuschließen, ermöglicht, sondern auch auf unser Vermögen zurückgeht, mit äußerstem Scharfsinn und schnellster Berechnung betrügerische Absichten zu entlarven. Das ist wesentlich stärker ausgeprägt als unsere Fähigkeit, Fehler zu erkennen oder die altruistischen Absichten eines anderen einzuschätzen. Sobald die Kosten und Nutzen eines Sozialvertrages eingeschätzt werden müssen, beginnen wir genauestens zu kalkulieren. Die Möglichkeit, von anderen übers Ohr gehauen zu werden, zieht unsere Aufmerksamkeit stärker auf sich als jeder mögliche Fehler, jede gute Tat und sogar jede potentielle Profitsteigerung. Sie weckt Gefühle und ist der Hauptauslöser für feindselige Gerüchte und moralisierende Aggression, immer zum Schutze der Integrität der eigenen politischen Ökonomie.
Die Hypothese von genetischer Tauglichkeit basiert auf der Vorstellung, daß die am weitesten verbreiteten kulturellen Merkmale den Genen, denen sie sich verdanken, einen Vorteil im Darwinschen Sinne verschaffen. Dafür gibt es genügend Beweise: Weitverbreitete Merkmale sind für gewöhnlich anpassungsfähig, und ihr Vorhandensein stimmt mit den Hauptgrundsätzen der Evolution durch natürliche Auslese überein. Außerdem ist dem Verhalten des Menschen im Alltagsleben abzulesen, daß er sich mehr oder weniger bewußt von solchen Grundprinzipien lenken läßt. Der Wert dieser Hy-pothese liegt nicht nur in den Erkenntnissen, die sie über die menschliche Natur ermöglicht, sondern auch in den produktiven neuen Richtungen, zu denen sie die wissenschaftliche Forschung bereits angeregt hat.
Dennoch hat sie eine Menge Schwächen, allerdings weniger aufgrund widersprüchlicher Beweise, sondern weil uns erst so wenige Informationen von Bedeutung zur Verfügung stehen. Da die auf den Menschen bezogene Verhaltensgenetik noch in den Kinderschuhen steckt, konnten auch noch kaumdirekte Verbindungen zwischen Genen und Verhaltensmustern hergestellt werden, die universalen kulturellen Merkmalen zugrunde liegen. Die beobachteten Übereinstimmungen zwischen Theorie und Praxis basieren im wesentlichen auf statistischen Korrelationen.
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Eine der wenigen Ausnahmen ist die erfolgreiche Bestätigung der im vorangegangenen Kapitel besprochenen Zusammenhänge von Genetik und der Entwicklung eines Vokabulars, das unserer Farbsicht entspricht.
Auch epigenetische Regeln, welche die Verhaltensentwicklung anleiten, sind noch im wesentlichen unerforscht. Daher können wir meist nur Vermutungen über die exakte Natur der genetisch-kulturellen Koevolution anstellen. Es wäre in der Tat ein großer Unterschied, ob sich epigenetische Regeln als starre, spezialisierte Funktionen des Gehirns herausstellen und deshalb mehr mit einem animalischen Instinkt vergleichbar wären, oder ob sie eher als allgemeinere rationale Algorithmen aufzufassen sind, die auf eine große Bandbreite von Verhaltenskategorien einwirken. Nun deuten alle vorliegenden Beweise darauf hin, daß es diese Regeln in beiden Versionen gibt. Zu welchem Zweck ein Lächeln eingesetzt wird, unterliegt beispielsweise der ersten, starren Art von epigenetischen Regeln, wohingegen die territoriale Reaktion von der allgemeineren zweiten Regelgruppe kanalisiert wird. Aber solange man diese Regeln und die Art, wie sie die geistige Entwicklung anleiten, nicht besser dokumentiert und entwirrt hat, wird es schwierig sein, den großen kulturellen Variantenreichtum zu erklären, der in den meisten Verhaltenskategorien feststellbar ist.
Die Unzulänglichkeiten der Verhaltensgenetik und Entwicklungsforschung sind konzeptioneller und technischer Art, und sie sind gewaltig. Aber letztlich sind sie lösbar. Denn solange es keine neuen Beweise gibt, die zwingend in eine andere Richtung führen, kann man auf die natürliche Einheit jener Disziplinen bauen, die zur Zeit die Verbindung zwischen Erbmaterial und Kultur erforschen (auch wenn die Unterstützung für diese Vernetzung erst ganz allmählich in Gang kommt). Um all die anstehenden Probleme lösen zu können, bedarf es einer Expansion der Biologie und ihrer Vereinigung mit der Psychologie und der Anthropologie.
Die Hypothese der genetischen Tauglichkeit läßt sich nach heutigem Forschungsstand am ehesten anhand einer Kategorie des menschlichen Verhaltens überprüfen: der Vermeidung von Inzest. Über dieses Phänomen stehen eine Menge Informationen auf verschiedenen biologischen und kulturellen Ebenen zur Verfügung. Außerdem handelt es sich um ein universelles oder nahezu universelles Verhalten, das zudem relativ deutliche Ausdrucksformen hat. Sexuelle Aktivitäten zwischen Geschwistern oder zwischen Eltern und ihren Kindern sind in allen Gesellschaften vergleichsweise ungewöhnlich;
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es gibt nurwenige Kinder, die aus solchen Verbindungen hervorgegangen sind; und langfristige inzestuöse Beziehungen, die mit einem ausdrücklichen Kinderwunsch beider Partner eingegangen werden, kommen so gut wie nicht vor.
Die Erklärung, die manheute für dieses - evolutionär sowohl genetisch wie kulturell bedingte - Inzestvermeidungsverhalten hat, folgt einer klaren soziobiologischen Linie. Inzucht zwischen Geschwistern oder zwischen Eltern und Kindern führt in hohem Maße zu genetischen Defekten bei der Nachkommenschaft. Im Normalfall tendiert der Mensch daher dazu, unbewußt die folgende epigenetische Regel zur Vermeidung dieses Risikos einzuhalten: Wachsen ein Junge und ein Mädchen in enger häuslicher Gemeinschaft auf, bevor zumindest einer von ihnen das Alter von dreißig Monaten erreicht hat - benutzen sie sozusagen dasselbe Töpfchen - , dann haben sie später nicht das geringste sexuelle Interesse aneinander und schon der Gedanke daran erregt in ihnen Widerwillen. Diese emotionale Verweigerung, die in vielen Gesellschaften überdies durch das rationale Verständnis der Folgen von Inzucht verstärkt wird, hat zu kulturellen Inzesttabus und schließlich zum Inzestverbot durch Sitte und Gesetz geführt.
Das Risiko, daß aus einer inzestuösen Verbindung erblich geschädigte Kinder hervorgehen - »Inzuchtdepression« nennen es die Genetiker - , ist wissenschaftlich belegt. Im Schnitt verfügt jeder Mensch irgendwo auf seinen 23 Chromosomenpaaren über zwei Stellen, die rezessive letale Gene enthalten. Diese Stellen können sich nahezu überall auf den Chromosomen befinden. Ihre genaue Anzahl und Lage sind von Mensch zu Mensch verschieden. Nur eines der beiden homologen Chromosome im entsprechenden Chromosomenpaar trägt letale Gene an der jeweiligen Stelle, wohingegen das andere ho-mologe Chromosom über ein normales Gen verfügt, welches die Wirkung des letalen Gens außer Kraft setzt. Grund dafür ist die Letalität selbst. Wenn beide Chromosome ein letales Gen an einer bestimmten Stelle tragen, wird der Fötus auf natürliche Weise abgetrieben oder das Kind stirbt noch im Säuglingsalter.
Verfügt eine Frau über ein letales Gen an einer Chromosomenstelle und wird sie von ihrem Bruder schwanger, dann wird ihr Kind - wenn das Elternpaar beider nicht miteinander verwandt war - mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:8 als Fötus oder Kleinkind sterben. Verfügt sie über letale Gene an zwei Chromosomenstellen, hat das Kind nur noch eine Überlebenschance von 1:4. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von anderen rezessiven Genen, die zu massiven anatomischen und geistigen Defekten führen.
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Die Frühsterblichkeit von Inzestkindern ist ungefähr doppelt so hoch wie die der Kinder von nicht verwandten Eltern. Bei überlebenden Inzestkindern kommen genetische Defekte wie Zwergenwuchs, Deformationen am Herzen, schwerste geistige Retardierung, Taubstummheit, Dickdarmvergrößerungen und Abnormalitäten im Harntrakt zehn Mal häufiger vor als gewöhnlich.
Inzest hat nicht nur für den Menschen destruktive Folgen, sondern auch für Pflanzen und Tiere. Beinahe jede Spezies, die für eine leichte oder schwere Form von Inzuchtdepression anfällig ist, verfügt über irgendeine biologisch programmierte Methode, Inzest zu vermeiden. Unter Menschenaffen und anderen nichtmenschlichen Primaten gibt es sogar eine doppelte Absicherung. Bei allen neunzehn sozialen Arten, deren Paarungsverhalten bisher erforscht wurde, pflegen Jungtiere das Äquivalent zur menschlichen Exogamie einzuhalten (Paarung außerhalb der eigenen Sippe). Noch bevor sie die vollständigesexuelle Reife erreicht haben, verlassen sie die Gruppe, in der sie geboren wurden, und schließen sich einer anderen an. Bei den Lemuren in Madagaskar und fast allen Meerkatzenarten der Alten und Neuen Welt sind es die Männchen, die auswandern. Bei den Roten Stummelaffen, Mantelpavianen, Gorillas und afrikanischen Schimpansen gehen die Weibchen, bei den Brüllaffen in Mittel- und Südamerika verlassen beide Geschlechter die Gruppe. Die rastlosen Jungtiere dieser Primatenarten werden jedoch nie von aggressiven Erwachsenen aus der Gruppe vertrieben, sondern scheinen völlig freiwillig zu gehen.
Was immer der evolutionäre Ursprung dieses Verhaltens und seine Auswirkungen auf den Reproduktionserfolg sein mögen, fest steht jedenfalls, daß bereits die Abwanderung der Jungtiere vor ihrer vollständigen sexuellen Reife die Möglichkeit von Inzucht reduziert. Nun ist ihnen noch eine zweite Schranke eingebaut: Tiere, die bei ihrer alten Gruppe bleiben, pflegen sexuelle Aktivität meistens ganz zu vermeiden. Bei allen erwachsenen Männchen und Weibchen nichtmenschlicher Primatenarten, deren sexuelles Verhalten studiert wurde -darunter die Marmosetten und Tamarine aus der Gattung der südamerikanischen Krallenäffchen, die asiatischen Makaken, Paviane und Schimpansen -, zeigte sich der sogenannte »Westermarck-Effekt«, das heißt, Tiere, zu denen schon früh im Leben eine Beziehung bestand, werden meist zurückgewiesen. Mütter und Söhne kopulieren fast nie; Brüder und Schwestern, die gemeinsam aufwuchsen, paaren sich wesentlich seltener als entferntere Verwandte.
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Diese natürliche Reaktion wurde vom finnischen Anthropologen Edward A. Westermarck allerdings nicht bei Affen, sondern beim Menschen entdeckt und erstmals 1891 in seinem Meisterwerk Die Geschichte der Ehe beschrieben. In den folgenden Jahren stützten immer mehr Forscher seine Darstellung dieses Phänomens, am überzeugendsten Arthur P. Wolf von der Stanford University in seiner Untersuchung über taiwanesische »Kinderehen«. Diese in Südchina einst weitverbreitete Tradition basierte auf dem Usus, nichtverwandte Mädchen im Kleinkindalter zu adoptieren und sie mit den biologischen Söhnen der neuen Familie im üblichen Geschwisterverhältnis aufzuziehen, um sie später mit ihnen zu verheiraten. Das Motiv für diese Praxis war ganz offenbar, Partnerinnen für die Söhne einer Gesellschaft zu sichern, in der ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis und ungleich verteilter Wohlstand zu äußerster Konkurrenz auf dem Heiratsmarkt führten.
Zwischen 1957 und 1995 studierte Wolf die Geschichten von 14 200 taiwanesischen Frauen, die im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zu solchen Kinderehen gezwungen worden waren. Seine Statistiken ergänzte er mit Interviews, die er mit vielen dieser »kleinen Schwiegertöchter« - Sim-pua, wie sie in der Hokkin-Sprache heißen - und ihren Freunden und Verwandten geführt hatte.
Wolf war auf ein - unbeabsichtigt - kontrolliertes Experiment zur Erforschung der psychologischen Ursprünge dieses wichtigen menschlichen Sozialverhaltens gestoßen. Da die Sim-pua und ihre Ehemänner biologisch nicht miteinander verwandt waren, konnten die typischen, aus genetischer Verwandtschaft entstehenden Faktoren von vornherein vernachlässigt werden. Aber sie waren wie alle Brüder und Schwestern in einem taiwanesischen Haushalt in großer Nähe zueinander aufgezogen worden.
Die Resultate dieses »Experiments« sprechen unmißverständlich für Westermarcks Hypothese. War die künftige Ehefrau adoptiert worden, bevor sie das Alter von dreißig Monaten erreicht hatte, versuchte sie sich später normalerweise gegen eine Ehe mit ihrem defacto-Bruder zu wehren. Oft mußten die Eltern das Paar sogar unter Androhung von physischer Gewalt zwingen, die Ehe zu vollziehen. Die Ehen endeten dreimal häufiger mit Scheidung als die »Erwachsenenehen« in denselben Gemeinden. Es gingen fast vierzig Prozent weniger Kinder aus ihnen hervor, und ein Drittel der Ehepartnerinnen beging Ehebruch, im Gegensatz zu etwa zehn Prozent der Ehefrauen an Erwachsenenehen.
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Aus einer Reihe exakter Kreuzanalysen filterte Wolf als entscheidenden Hemmfaktor die enge Koexistenz der späteren Ehepartner in der Lebensphase heraus, bevor einer oder beide von ihnen das Alter von dreißig Monaten erreicht hatten. Je länger und enger die Beziehung während dieser kritischen Periode gewesen war, desto stärker war die spätere Abneigung gegen eine Ehe. Wolfs Daten ermöglichten die Reduzierung oder Eliminierung aller anderen denkbaren Faktoren, die bei dieser Entwicklung eine Rolle gespielt haben könnten, beispielsweise die Adoptionserfahrung per se, der finanzielle Status der Gastfamilie, Gesundheit, das Alter bei der Eheschließung, Geschwisterrivalität oder der natürliche Widerwille gegen Inzest, der durch die Behandlung des Paares als genetisches Geschwisterpaar hätte entstehen können.
Ein ähnlich unbeabsichtigtes Experiment fand in israelischen Kibbuzim statt, wo Kinder in eigenen Kinderhäusern lebten und dort wie Brüder und Schwestern in konventionellen Familien aufwuchsen. Der Anthropologe Joseph Shepher und seine Mitarbeiter berichteten 1971, daß von 2 769 Eheschließungen unter jungen Erwachsenen, die in diesem Umfeld aufgewachsen waren, keine einzige unter Kibbuzniks geschlossen wurde, die gemeinsam erzogen worden waren. Es war nicht einmal ein einziger Fall von heterosexueller Aktivität zwischen jungen Leuten aus demselben Kibbuz bekannt, obwohl die Erwachsenen gar nicht ausdrücklich dagegen gewesen wären.
Anhand dieser Beispiele und vieler anekdotischer Nachweise aus anderen Gesellschaften wird deutlich, daß das menschliche Gehirn darauf programmiert ist, einer einfachen Faustregel zu folgen: Man hat kein sexuelles Interesse an Menschen, die einem von frühesten Kindesbeinen an eng vertraut sind.
Dieser Westermarck-Effekt stimmt im übrigen auch mit dem psychologischen Prinzip der sogenannten Stufenwirkung überein. Zeugnisse aus vielen Gesellschaften legen nahe, daß eine heterosexuelle Beziehung mit um so geringerer Wahrscheinlichkeit eingegangen wird, je intimer sich zwei Menschen in der kritischen frühen Kindheitsperiode kannten. Ein Mutter-Sohn-Inzest, der sich durch die intensiven Bande seit dem Säuglingsalter des Sohnes verbietet, kommt daher bei weitem am seltensten vor. Auf nächster Wahrscheinlichkeitsstufe folgt der geschwisterliche Inzest und darauf der sexuelle Mißbrauch von Mädchen durch ihre biologischen Väter (hier spreche ich ausdrücklich von Mißbrauch, weil Töchter kaum je freiwillig ihre Einstimmung geben). Auf letzter Stufe schließlich folgt der sexuelle Mißbrauch von Mädchen durch ihre Stiefväter.
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Obwohl all diese Nachweise ein klares und überzeugendes Bild ergeben, sind wir von einer wirklich vollständigen Erklärung für das Inzestvermeidungsverhalten noch immer weit entfernt. Es gibt keinen schlüssigen Beweis, daß der Westermarck-Effekt im Rahmen der genetischen Evolution durch natürliche Auslese entstanden wäre. Gewiß weist alles darauf hin, denn Inzestvermeidung verringert logischerweise die Möglichkeit von Inzucht und steigert damit die Produktion von gesunden Nachkommen. Selbst wenn man eine schmale Marge genetischer Abweichung im Hinblick auf das sexuelle Entgegenkommen unter ehemaligen Kindheitskameraden annimmt, wären die Unterschiede in der genetischen Tauglichkeit wirksam genug - jedenfalls nach Theorie der Populationsgenetik - , damit der Westermarck-Effekt sich von seinem ersten, begrenzten Auftreten an im Laufe von nur zehn Generationen in einer ganzen Population ausbreiten könnte. Ein weiterer Beweis für diesen Effekt ist, daß es ihn auch unter anderen Primaten gibt, darunter bei unserem engsten Verwandten, dem Schimpansen, wo er ohne Frage genetischen und nicht kulturellen Ursprungs ist. Aber noch wurde kein Versuch un-ternommen, die Heritabilität dieses Verhaltens beim Menschen zu messen oder die verantwortlichen Gene zu entdecken.
Ein anderes Problem an der Forschungsfront ist, daß wir die exakten psychischen Auslöser dieses Westermarck-Effekts nicht kennen. Noch wurde nicht festgestellt, welche Reize zwischen Kindheitskameraden diese Hemmung hervorrufen. Wir wissen nicht, ob die Auslöser das gemeinsame Spiel, gemeinsame Mahlzeiten, das unvermeidliche kindliche Aggressionsverhalten oder andere, vielleicht noch viel subtilere und unterschwelliger empfundene Dinge sind. Der auslösende Reiz könnte alles sein, klein oder groß, verbunden mit dem Seh-, Hör-, Geruchs- oder einem anderen Sinn, und es ist noch nicht einmal gesagt, daß wir ihn mit unserem Erwachsenenbewußtsein überhaupt erfassen können. Das wesentliche am Instinktverhalten ist nach Interpretation von Biologen, daß es von einfachen Schlüsselreizen ausgelöst wird, die im realen Leben nur mit einem bestimmten Objekt in Verbindung gebracht werden müssen. Ein bestimmter Geruch oder eine einzige Berührung kann im entscheidenden Moment komplexeste Verhaltensweisen hervorrufen oder verhindern.
Die Erfassung des menschlichen Inzestvermeidungsverhaltens wird außerdem durch die Existenz einer dritten Schranke erschwert - die Inzesttabus, jene kulturell vermittelten Regeln, welche sexuelle Aktivitäten unter engen Verwandten verbieten.
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Viele Gesellschaften gestatten oder fördern Eheschließungen zwischen Vettern ersten Grades, vor allem wenn eine solche Verbindung dem Gruppenzusammenhalt dient und den familiären Wohlstand konsolidiert, verbieten sie jedoch zwischen Geschwistern und Halbgeschwistern.
Solche Tabus sind bewußte Entscheidungen und nicht einfach nur instinktive Reaktionen, und sie können im einzelnen von einer Gesellschaft zur anderen enorm variieren. In vielen Kulturen stehen sie außerdem mit der jeweiligen Einstufung von Verwandtschaftsgraden und exogamen Eheverträgen in Zusammenhang. In ungebildeten Gesellschaften wird Inzest gemeinhin für eine Folge von Kannibalismus, Vampirismus und unheilbringender Hexerei gehalten und als ebenso strafwürdig empfunden wie diese. Moderne Gesellschaften erlassen Gesetze, die von Inzest abhalten sollen. In der Zeit des englischen Commonwealth und Protektorats von 1650 bis zur Restauration ein Jahrzehnt später wurde Inzest mit dem Tode geahndet. In Schottland galt er bis 1887 zumindest auf dem Papier als Kapitalverbrechen, doch Gesetzesbrecher bekamen selten mehr als eine lebenslange Haftstrafe. In den Vereinigten Staaten wurde Inzest allgemein als Schwerverbrechen behandelt, das mit einer Geldbuße, Gefängnis oder beidem bestraft wurde. Der sexuelle Mißbrauch von Kindern wird als noch abscheulicher empfunden, wenn es sich dabei außerdem um Inzest handelt.
Doch die Geschichte, an der sich die Sitten und Gebräuche der Menschen immer am besten ablesen lassen, kennt auch Ausnahmen. Es gab Gesellschaften, in denen zumindest ein gewisser Grad an Freizügigkeit herrschte, zum Beispiel bei den Inkas, Hawaianern, Thais, den alten Ägyptern, den Nkolen (Uganda), Bunjoro (Uganda), Ganda (Uganda), Zande (Sudan) und bei den Dahomeanern in Westafrika. In allen Fällen sind inzestuöse Praktiken (oder waren, denn in vielen Fällen wurden sie eingestellt) von Ritualen begleitet und auf Mitglieder der Königsfamilie oder anderer hochrangiger Gruppen beschränkt. Das Arrangement besteht immer darin, daß der Mann neben der »reinen« - also verwandtschaftlichen - Nachkommenschaft auch mit nichtverwandten Frauen Kinder zeugt. Die Erbfolge der herrschenden Familien folgt der väterlichen Linie. Ein gesellschaftlich hochstehender Mann wird versuchen, seiner Familie die höchstmögliche genetische Tauglichkeit zu sichern, indem er sich zum einen mit der eigenen Schwester verbindet und mit ihr Kinder zeugt, die durch die gemeinsame Abstammung 75 Prozent der familiären Gene - anstatt der üblichen 50 Prozent - tragen, gleichzeitig
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aber auch mit genetisch nichtverwandten Frauen, deren Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit normal sein werden. Weniger leicht zu erklären sind die wohldokumentierten Fälle von Geschwisterehen, die zwischen 30 v. Chr. und 324 n. Chr. im römischen Ägypten unter Bürgern geschlossen wurden. Papyrustexte aus dieser Zeit belegen eindeutig, daß es zumindest einige Geschwisterpaare gab, die scham und furchtlos sexuelle Beziehungen miteinander eingingen.
Die Inzesttabus führen uns wieder einmal in das Grenzgebiet zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften, denn sie werfen die Frage auf, in welcher Beziehung der biologisch bedingte Westermarck-Effekt zu den kulturell bedingten Inzesttabus steht.
Dieser Punkt wird sehr viel klarer, wenn man die beiden grundsätzlichen Hypothesen, die um die Erklärung des menschlichen Inzestvermeidungsverhaltens konkurrieren, einander gegenüberstellt. Einerseits also die Hypothese von Westermarck, die ich nochmals in einer moderneren Wissenschaftssprache zusammenfassen will: Menschen vermeiden Inzest aufgrund einer ererbten epigenetischen Regel der menschlichen Natur, die sie in Tabus übersetzen. Die konkurrierende Hypothese stammt von Sigmund Freud. Es gibt keinen Westermarck-Effekt, insistierte der große Theoretiker, als er von dieser Hypothese erfuhr. Ganz im Gegenteil, heterosexuelle Lust unter den Mitgliedern derselben Familie sei ursprünglich und unwiderstehlich und werde durch keine instinktive Schranke vereitelt. Um der katastrophalen Folge von Inzest, dem Zerreißen der Familienbande, vorzubeugen, würden Gesellschaften Tabus erfinden. Daraus entwickelte Freud dann eine seiner psychologischen Universaltheorien, den Ödipuskomplex: die unerfüllte Sehnsucht des Sohnes nach sexueller Befriedigung mit der Mutter und der gleichzeitige Haß gegenüber dem als Rivalen betrachteten Vater. »Die erste Objektwahl des Menschen«, schrieb er 1917, »ist regelmäßig eine inzestuöse, beim Manne auf Mutter und Schwester gerichtete, und es bedarf der schärfsten Verbote, um diese fortwirkende infantile Neigung von der Wirklichkeit abzuhalten.
«Freud tat die Idee des Westermarck-Effekts als lächerlich ab und errang damit einen Sieg auf ganzer Linie. Die Erkenntnisse der Psychoanalyse, versicherte er, entzögen dieser Theorie den Boden. Außerdem machte er sich eine Replik des britischen Anthropologen und Klassizisten James Frazer, Autor des Buches Der Goldene Zweig, zunutze. Wenn es den Westermarck-Effekt wirklich gäbe, so Frazer, wären keine Tabus erforderlich. »Es ist schwer vorstellbar, daß irgendein tiefsitzender menschlicher Instinkt durch das Gesetz bekräftigt werden müßte.
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« Diese Logik beherrschte fast das gesamte zwanzigste Jahrhundert lang die Lehrbücher und wissenschaftlichen Abhandlungen.
Westermarcks Reaktion auf Frazer war einfach, ebenso logisch und wurde überdies durch immer neue Beweise bekräftigt. Doch nach dem siegreichen Vorstoß der psychoanalytischen Theorie wurde sie völlig ignoriert. Der Mensch, schrieb er, orientiere sich an folgendem Gedankengang: Ich empfinde meinen Eltern und Geschwisterngegenüber sexuelle Gleichgültigkeit. Doch manchmal frage ich mich, wie es wäre, sexuellen Verkehr mit ihnen zu haben. Schon der Gedanke daran ist abstoßend! Inzest ist etwas Erzwungenes und Unnatürliches. Er würde die Bindungen, die ich zu ihnen geschaffen habe und zu meinem eigenen Wohl auf täglicher Basispflegen muß, verändern oder zerstören. Auch wenn andere Inzest verüben, finde ich das widerwärtig, und so empfinden es offenbar auch andere, deshalb sollten die seltenen Fälle, in denen es dazu kommt, als unmoralisch verdammt werden.
So logisch diese Erklärung auch sein und so sehr sie auch durch Beweise gestützt sein mag, so leicht ist doch ebenfalls nachzuvollziehen, weshalb sich Freud und viele andere einflußreiche Sozialtheoretiker so vehement gegen den Westermarck-Effekt wehrten: Er gefährdete ein Fundament des modernistischen Denkens, weil er in Frage stellte, was zu dieser Zeit als entscheidender intellektueller Fortschritt empfunden wurde. Wolf hat dies sehr präzise formuliert: »Freud sah nur allzu klar: Wenn Westermarck recht hatte, mußte er unrecht haben. Die Möglichkeit, daß frühe Kindheitsbeziehungen sexuelle Anziehung unterdrücken, mußte bestritten werden, wenn nicht das ganze Fundament des Ödipuskomplexes zusammenfallen sollte und damit auch sein Konzept der Persönlichkeitsdynamik, seine Erklärung für Neurosen und seine gesamte Sichtweise der Ursprünge von Gesetz, Kunst und Zivilisation.
«Der Westermarck-Effekt bringt aber auch noch andere Boote ins Wanken. Es stellt sich nämlich die Frage, ob gesellschaftliche Vorschriften ganz allgemein dazu dienen, die menschliche Natur zu unterdrücken, oder ob es eher darum geht, ihr Ausdruck zu verleihen. Und daraus ergibt sich die gar nicht triviale Frage, was Inzesttabus über die Entwicklung von Moral aussagen. Die orthodoxe Sozialtheorie vertritt den Standpunkt, daß Moral im wesentlichen eine anhand von Sitten und Gebräuchen gebildete gesellschaftliche Konvention von Verbindlichkeit und Pflicht ist. Die alternative, von Westermarck in seinen Schriften zur Ethik favorisierte Sichtweise geht hingegen davon aus, daß moralische Konzepte aus angeborenen Gefühlen hergeleitet werden.
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Zumindest der ethiktheoretische Konflikt über den Ursprung von Inzestvermeidung kann empirisch beigelegt werden: entweder war Westermarck faktisch im Recht oder Freud. Die heutige Faktenlage spricht sehr für Westermarck. Doch bei Inzesttabus geht es um mehr als nur darum, persönlichen Präferenzen kulturelle Konventionen aufzupfropfen, denn die Menschen können die Auswirkungen von Inzest unmittelbar beobachten und sind in der Lage, zumindest ansatzweise zu erkennen, daß deformierte Kinder häufig das Produkt von inzestuösen Vereinigungen sind. William H. Durham, ein Kollege von Arthur Wolf an der Stanford University, durchforstete ethnographische Daten von sechzig nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Gesellschaften in aller Welt nach Hinweisen auf ein wie immer geartetes Verständnis für die Folgen von Inzest. Er fand zwanzig Gesellschaften, die nachweislich ein bestimmtes Bewußtsein dafür entwickelt hatten. Die amerikanisch-indianischen Tlingit in der nordwestlichen Pazifikregion stellten beispielsweise einen direkten Bezug zwischen der Häufigkeit von behinderten Kindern und sexuellen Beziehungen innerhalb der engen Verwandtschaft her. Andere Gesellschaften verfügten nicht nur über dieses Wissen, sondern hatten auch verschiedene Volkstheorien darüber entwickelt. Die Lappen in Skandinavien sprachen zum Beispiel vom »schlechten Blut«, welches sich durch Inzest bilde. Die tikopischen Polynesier glaubten, daß mara, das von inzestuösen Partnern hervorgerufene böse Schicksal, an deren Nachkommen weitergegeben werde. Die Kapauku in Neuguinea hatten eine ähnliche Theorie entwickelt: Der inzestuöse Akt führe zur Entartung der Lebenssäfte der Missetäter, die dann an deren Kinder weitergegeben werde. Die Torodja in Sulawesi, Indonesien, fanden eine eher kosmische Erklärung: Wann immer sich Menschen mit unvereinbaren Merkmalen paarten, wie bei engen Verwandten der Fall, werde die Natur in Aufruhr gestürzt.
Merkwürdigerweise gab es zwar bei sechsundfünfzig der von Durham erforschten sechzig Gesellschaften zumindest einen Mythos mit Inzestmotiven, doch nur bei fünfen war von nachteiligen Folgen die Rede. Öfter wurden dem Inzest sogar vorteilhafte Effekte zugeschrieben, wie zum Beispiel die Erschaffung von Riesen und Helden. Doch selbst in diesen Fällen wurde er als etwas Außergewöhnliches, wenn nicht Abnormales betrachtet.
Nochmals zusammengefaßt: Das faktische Bild, das sich aus der Erforschung der Inzestvermeidungshaltung beim Menschen ergibt, zeigt mehrere aufeinanderfolgende Hürden. Als erstes den Westermarck-Effekt, jene archaische emotionale Verweigerung, die bislang bei allen Primaten entdeckt wurde und daher höchstwahrscheinlich auch ein universales Merkmal des Menschen ist.
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Als zweites die Abwanderung von Jungtieren im Stadium der sexuellen Reife, ein universales Merkmal aller Primaten, welches sich beim Menschen in der pubertären Unruhe und der Gepflogenheit manifestiert, außerhalb der eigenen Sippe zu heiraten. Die tiefenpsychologischen Motive für dieses Abwanderungsverhalten und die epigenetischen Regeln, die dazu führen, sind noch unbekannt. Und als letztes die kulturellen Inzesttabus, die den Westermarck-Effekt und das Abwanderungsverhalten verstärken. Höchstwahrscheinlich leiten sich diese Tabus aus dem Westermarck-Effekt ab, und, bei zumindest einigen Gesellschaften, aus der unmittelbaren Beobachtung der destruktiven Folgen von Inzest.
Mit der Übersetzung des Westermarck-Effekts in Inzesttabus scheint der Mensch vom reinen Instinktverhalten zur rationalen Entscheidung übergegangen zu sein. Aber ist das wirklich der Fall? Was ist eine rationale Entscheidung überhaupt? Ich möchte dafür die folgende Definition vorschlagen: Wir entscheiden uns rational, indem wir uns aus allen alternativen geistigen Szenarien auf diejenigen festlegen, die in einem bestimmten Kontext den wichtigsten epigenetischen Regeln am weitesten entgegenkommen. Diese Regeln und ihre Hierarchisierung entsprechend ihrer relativen Wirkungsmacht haben dazu geführt, daß der Mensch Hunderttausende von Jahren überleben und sich reproduzieren konnte. Der Fall des Inzestvermeidungsverhaltens kann uns Hinweis sein, auf welche Weise die Koevolution von Genen und Kultur nicht nur bestimmte Verhaltensweisen, sondern die gesamte Struktur menschlichen Sozialverhaltens miteinander verwoben hat. Menschen in der pubertären Unruhe und der Gepflogenheit manifestiert, außerhalb der eigenen Sippe zu heiraten. Die tiefenpsychologischen Motive für dieses Abwanderungsverhalten und die epigenetischen Regeln, die dazu führen, sind noch unbekannt. Und als letztes die kulturellen Inzesttabus, die den Westermarck-Effekt und das Abwanderungsverhalten verstärken. Höchstwahrscheinlich leiten sich diese Tabus aus dem Westermarck-Effekt ab, und, bei zumindest einigen Gesellschaften, aus der unmittelbaren Beobachtung der destruktiven Folgen von Inzest. Mit der Übersetzung des Westermarck-Effekts in Inzesttabus scheint der Mensch vom reinen Instinktverhalten zur rationalen Entscheidung übergegangen zu sein. Aber ist das wirklich der Fall? Was ist eine rationale Entscheidung überhaupt? Ich möchte dafür die folgende Definition vorschlagen: Wir entscheiden uns rational, indem wir uns aus allen alternativen geistigen Szenarien auf diejenigen festlegen, die in einem bestimmten Kontext den wichtigsten epigenetischen Regeln am weitesten entgegenkommen. Diese Regeln und ihre Hierarchisierung entsprechend ihrer relativen Wirkungsmacht haben dazu geführt, daß der Mensch Hunderttausende von Jahren überleben und sich reproduzieren konnte. Der Fall des Inzestvermeidungsverhaltens kann uns Hinweis sein, auf welche Weise die Koevolution von Genen und Kultur nicht nur bestimmte Verhaltensweisen, sondern die gesamte Struktur menschlichen Sozialverhaltens miteinander verwoben hat.
E. O. Wilson: Die Einheit des Wissens
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