Seminar für Volkskunde/ Tagesspiegel vom 22.11.1999,
Ethnologen sammeln private Lebens- und Weltentwürfe zum Jahr 2000
von CK

Im Rahmen eines volkskundlichen Seminars über Bilder, Accessoires, Geschichten und Erinnerungen rund um die Jahrtausendwende sammelt der Volkskundler Prof. Dr. Andreas Hartmann von der Universität Münster

Fast jeder habe sich irgendwann ausgemalt, wie es um die Welt und um ihn selbst im Jahr 2000 bestellt sein wird, meint Hartmann. Werden wir uns von Robotern bedienen lassen und uns in Flugautos fortbewegen? Die Münsteraner Volkskundler wollen eine Dokumentation von privaten Lebens- und Weltentwürfen erstellen, die an die Zeitenwende geknüpft waren. Die Leser werden gebeten, ihre "Erinnerungen an die Zukunft" zu Papier zu bringen, versehen mit Alter, Geschlecht und Beruf des Verfassers sowie die Entstehungszeit der Zukunftsvision.
Auf Wunsch wird Anonymität zugesichert. Die Einsendungen gehen an:

Prof. Dr. Andreas Hartmann, Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie, Domplatz 23, 48143 Münster.


Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Hartmann,

vor nunmehr 22 Jahren folgte ich Ihrem Aufruf und schickte Ihnen am 12. 12. 1999 meine "Erinnerungen an die Zukunft". — Damals hätte ich sicherlich geschwindelt, wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich denn meine Vorstellungen für realistisch halte.

Aus heutiger Sicht bin ich natürlich froh, mich damals zum "Spinner" gemacht zu haben, hat die Gesellschaft doch so endlich eine Möglichkeit gefunden, sich selbst eine Richtung bei ihrer kulturellen Entwicklung zu geben, die bis heute nichts von ihrem nachhaltigen und zugleich offenen Charakter eingebüßt hat.

Inzwischen sind die Erinnerungen an die damals vorherrschende Erfahrung von gesellschaftlicher Stagnation und wirtschaftlichem Fundamentalismus zunehmend verblasst.

Natürlich sind hinterher alle immer klüger; aufgrund der unsicheren Ausgangssituation, hätte jedoch alles auch ganz anders kommen können.

Einige Menschen weniger, oder etwas weniger ihres beherzten Mutes und die Initiative wäre unter Umständen gescheitert.

Aufgrund der damals noch vorherrschenden, "vordemokratischen", (oder "spätfeudalen?"), Strukturen wurden die "sozialen Bedürfnisse" der Menschen beim gesellschaftlichen "Struktur—Design" noch schmerzlich ignoriert, bzw. war wohl selbst der Begriff "Sozial—Ergonomie" noch nicht geläufig.

Und bekannte Begriffe wie beispielsweise "sozial", benutzten selbst die Parteien, die ihn in ihrem Namen führten, fast ausschließlich als Synonym für materielle "Verteilungsgerechtigkeit". Diese Substanzlosigkeit der politischen Sprache war Stil und Ausdruck der manipulierenden Herrschaftsweise der Parteien gegenüber den Bürgern. Entsprechend empfanden sich die Menschen selbst, wirtschaftlich und politisch, fast ausschließlich als Konsumenten.

Der juristische Tatbestand der "Unterlassung" war wohlbekannt und trotzdem blieb vielen zunächst unklar, weshalb man jemanden etwas zufügt, wenn man ihm etwas vorenthält. Wie gesagt, unter "sozialer Gerechtigkeit" verstanden die Menschen noch "Verteilungsgerechtigkeit", anstatt "Beteiligungsgerechtigkeit".

Mit der Volksabstimmung über unsere neue Verfassung wurde am 12.02. 2004, anlässlich des 200-sten Todestages von Immanuel Kant, wie Sie wissen, der "erweiterte kategorische Imperativ", als Erläuterung zum früheren § 1GG in unsere Verfassung mit aufgenommen:

§ 1GG "Die Würde des Menschen ist unantastbar." 
"Jeder handle so, das die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte und es dadurch der größtmöglichen Anzahl
von Menschen möglich sein wird, ihren sozialen Bedürfnissen entsprechend zu leben."

So selbstverständlich es für uns heute ist, unsere Meinungen über die, unser Zusammenleben ordnenden Gesetze, in Form eines öffentlichen Dialoges, miteinander auszutauschen, so unvorstellbar war für viele damals, welches persönliche und gesellschaftliche Emanzipations- und Veränderungspotential durch diese scheinbar "geringfügigen" Veränderungen freigesetzt werden würden.

Selbst während der langen Diskussionen um die Einführung dieses neuen Procederes, war dies überhaupt noch nicht abzusehen. Erst die praktische Durchführung selbst, schaffte den Durchbruch, obwohl es auch hier zunächst so schienen, als ob die "Bauern" wenig geneigt seien, etwas zu "fressen", was sie nicht kannten.

Letztlich stellte sich beim Essen dann doch noch der Appetit ein. Viele empfanden es als so etwas wie die Selbstbefreiung ihres verschütteten Lebensgefühls; für andere dagegen war es sofort wie selbstverständlich, sich an diesem "Kulturverarbeitungsprozess" zu beteiligen. Dass sich damit gleichzeitig der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder ganz neu entwickelte, spielte zunächst noch keine Rolle.

Durch diese Aktivierung der "sozialen Bedürfnisse" des Menschen, also seiner ererbten Fähigkeit zur Kommunikation, dem Bedürfnis nach sozialer Zuordnung und dem kausalen, also handlungsorientierten Denken, entwickelte sich nicht nur ein Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen, sondern darüber hinaus, wurden viele "Teilhaber" durch ein Gefühl von "Kompetenz" und "Empowerment" belohnt, das zuvor nur Mitgliedern von kleineren Gruppen zuteil wurde.

Wie wir heute wissen dauerte es noch seine Zeit bis die damaligen Macht-Aktionisten aus ihrer "Wir schaffen das auch alleine" Fatalismus-Falle herausfanden. Durch die ständige Wiederholung ihrer Litaneien machten sie es sich und den Bürgern unnötig schwer.

Mit dem gebetsmühlenartig Herunterleiern ihrer Vermeidungsfloskeln:
"Es gibt keinen Königsweg"; "Dafür gibt es kein Patentrezept", versuchten uns unsere "Helfer" von ihrer eigenen Hilflosigkeit abzulenken und wehrten dadurch weitreichendere Vorschläge ab.

Natürlich war die Situation ernst und viele Menschen litten darunter, auf welch negative Weise sich diese Politik auf ihr Leben auswirkte. Und dennoch als der Knoten dann endlich platzte, hatten viele das Gefühl, sie hätten an einem Slapstick teilgenommen. Die Bemühungen der Politiker in den letzten Jahren, erinnerten an eine der zahlreichen Film-Szenen, in der ein Mann sich den Zugang zu einem Haus, mühsam durch ein Fenster im ersten Stock verschafft, um nachträglich festzustellen, daß die Tür überhaupt nicht verschlossen war und er einfach nur hineinzugehen brauchte.

In diesem Sinne wäre das nun folgende Fiasko überflüssig gewesen, doch die verfestigten gegenseitigen Vorurteile zwischen Bürgern und Politikern machten sie für einander "unzugänglich".

Ob der Ausgangspunkt der folgenden tiefen Vertrauenskrise in die alten Strukturen, bereits mit der CDU-Parteispenden-Affäre begann, oder erst im Jahr 2000 durch die Verfassungsklage der "Nicht-Wähler-Partei" entstanden ist, ist rückblickend nur noch schwer zu sagen. Die "Nicht-Wähler-Partei" begründete ihre Klage damit, daß durch das praktizierte Wahlverfahren das Wahlgeheimnis nicht gewahrt sei, so wie dies durch die Verfassung vorgeschrieben ist. Da in der Wahlliste alle Wähler durch Kennzeichnung erfaßt würden, würden gleichzeitig alle Nichtwähler kenntlich gemacht. Wahlen in unserem Land seien jedoch prinzipiell freiwillig, von daher müsse auch die Entscheidung nicht zu wählen als "Wahl" anerkannt werden und sei mithin durch das in der Verfassung garantierte Wahlgeheimnis zu schützen.

Schon ein Jahr vor dem Verfassungsurteil hatte sich die "Gesellschafts-Entwicklungs-Lobby Deutschland" (G.E.L.D.) gegründet und somit war der rechtliche und formale Rahmen geschaffen, die entsprechenden Verfahren und Techniken einzusetzen und das Verfassungsgericht gab der Klage statt.

In seinem Urteil forderte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber auf, diesen Fehler bis zur nächsten Wahlperiode des Deutschen Bundestages zu beheben. Es begründete das Urteil sinngemäß damit, dass auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen von Zeit zu Zeit der Standard an den Stand der Technik angepasst würde.

Da dieses Beteiligungsverfahren den Bürger in einer Weise am politischen Leben beteilige, die erstmalig den Meinungs- und Willensbildungsprozess der Bürger entscheidend verbessere, ohne die Gewissensfreiheit der parlamentarischen Repräsentanten dadurch einzuschränken ist der Gesetzgeber aufgefordert die dafür notwendigen gesetzlichen Änderungen vornehmen.

Mit diesem Dialogverfahren wurde es schließlich möglich, das Interesse von immer mehr Menschen auf die unterschiedlichen lokalen, nationalen und globalen Verantwortung-Sphären zu lenken und dort zu organisieren.

Vor 10 Jahren gründete sich der "gesellschaftliche Lobby-Organisationen-Bund aller Länder" (g.L.O.B.a.L.).

Er arbeitet zurzeit an einem internationalen Konzept des "Zeit-Zonen-Zolls" mit dem Ziel, lokale Märkte besser zu schützen, regionale Märkte zu fördern und den Energieverbrauch z.B. durch "Güter-Tourismus" zu verringern.

Mit freundlichen Grüßen

Albert Reinhardt

PS: Einem nostalgischen Impuls folgend habe ich heute zwei alte Unterlagen aus diesen Zeiten ausgegraben, von denen ich Ihnen jeweils eine Kopie beilege.

Die Menschen, die etwas von heute auf morgen verschieben,
sind dieselben, die es bereits von gestern auf heute verschoben haben.
Peter Ustinov (1921-2004), engl. Schriftsteller u. Schauspieler

https://de.wikipedia.org/wiki/Kairos