BERLINER STIMME vom 16.03. 1994

Vor ziemlich genau einem Jahr durchzog die SPD die Debatte über die "Parteireform 2000". Eine wahre Aufbruchstimmung innerhalb der SPD war die Folge, als unter den Augen einer staunenden Öffentlichkeit die Parteiführung die Basis über den künftigen SPD-Vorsitzenden entscheiden ließ.
Das Ergebnis dieses Testlaufs war ein voller Erfolg für die SPD-Basis und erzeugte gleichzeitig für die SPD eine große Sympathie-Welle, auf welcher der neue Parteivorsitzende gleich mit nach oben in der Wählergunst gespült wurde.
Das „Jammertal" war durchschritten. Doch schon im November 1993, als dann die Basis-Beteiligung bereits auf dem Wiesbadener Parteitag beschlossen wurde, nahm die Öffentlichkeit kaum noch Notiz davon.

Und heute, noch nicht einmal 150 Tage nach der Änderung der Satzungsstatuten macht sich sowohl beim Wähler, wie auch innerhalb der SPD erneut Unsicherheit breit.
Wie schon am 27. 02. 93 der Beitrag von Gert-Joachim Glaeßner in der BS treffend überschrieben war, scheinen heute erneut "die überkommenen Politikmuster (zu) versagen".
Auch das neue Mitgliederbefragungsmodell muß, kaum daß es eingeführt wurde, schon wieder als „überkommen" bewertet werden, denn die „Struktur von Parteimitgliedern und Wählern driftet weiter auseinander".
Gert Joachim Glaeßner faßte damals zusammen:

"Wollte man an die Lösung dieses Problems herangehen, das eine Partei wie die SPD in besonderer Weise tangiert, müßte man Abschied von liebgewordenen Gewohnheiten nehmen, die über einhundert Jahre das Binnenleben der Partei geprägt haben."

Mein Vorschlag würde es Parteien ermöglichen, Wähler noch stärker in die parteiinternen Entscheidungsstrukturen mit einzubeziehen, so wie dies die SPD bereits für ihre Mitglieder möglich gemacht hat.

I. Wahl-Mitgliedschaft

Jeder Wähler hat die Möglichkeit, durch die Wahl der SPD gleichzeitig Parteimitglied zu werden. Für vier Jahre ist er dann sogenanntes „Wahl-Mitglied". Wahl und Parteiaufnahme geschehen nachweislich durch vorgezogene „Briefwahlen" auf privater Ebene.

Als „Vor-Wahlbüro" dienen dezentrale Datenverarbeitungsinstitute in den Wahlbezirken, welche notarieller Datenschutzkontrolle unterliegen, analogzu den parteinahen Stiftungen, unabhängig von den Parteien.

II. Festlegung des Programm-Profils durch die Wahl-Mitglieder
  1. Jedem Parteimitglied stehen acht Programm-Profilstimmen zur Verfügung, die es gemäß seines Interesses für bestimmte Sachgebiete einsetzen kann.

  2. Mit bis zu drei Stimmen pro Sachgebiet kann das Mitglied seine Interessengebiete gewichten und damit das Parteiprogramm-Profil mitbestimmen (z. B. 3 Stimmen Umweltschutz, 2 Stimmen Frauen, 1 Stimme Wohnungsbau und 2 Stimmen Arbeit).

III. Machtverteilung innerhalb der Partei
  1. Entsprechend der prozentualen Verteilung der Profil-Stimmen werden die Plätze in den Arbeitsausschüssen der Partei verteilt.

  2. Alle Vertreter der Arbeitsausschüsse zusammen bilden das oberste Gremium, das Partei-Plenum.

  3. Der größte Arbeitsausschuß schlägt den Vorsitzenden vor.

  4. Die Abwägung der parteiinternen Interessen zwischen den Arbeitsausschüssen lassen sich im "Partei-Plenum" nach den Geschäftsordnungen der jeweiligen Parlamente auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene regeln.

  5. Im "Partei-Plenum" werden die für die Partei bindenden Beschlüsse gefaßt und Vertreter für die verfassungsmäßigen Parlamente gewählt.

IV. „Nach-Frage-WahI"

Auch außerhalb der regulären Wahlen ist eine Beteiligung der Parteimitglieder in Form von Meinungsbefragungen vorgesehen.

Als Medium könnte eine Parteizeitung dienen, in welcher sich die Parteimitglieder oder Experten in kurzen leserbriefartigen Stellungnahmen und Artikeln, sowohl ihre Pro- und Kontrapositionen, wie auch eigene Lösungsvorschläge gegenseitig mitteilen könnten, wie dies heute schon in der BERLINER STIMME geschieht.

Neu wäre, daß sich in der Anlage dieser Zeitung ein maschinenlesbarer Fragebogen befände, mit dessen Hilfe jedes Parteimitglied seinen Beitrag zum Gesamtmeinungsbild leisten könnte. Wiederum soll der Fragebogen in dem genannten Datenverarbeitungsinstitut ausgewertet werden.
Die Partei erhält die statistische Auswertung als "Erwartung" ihrer Wahl-Mitglieder mitgeteilt.

Sicherlich ist das vorliegende (Roh-)Konzept für eine so traditionsreiche Partei wie die SPD nicht ganz einfach aufzugreifen. Wenn ein solches Angebot an den Wähler jedoch nur nahezu auf eine ähnliche Resonanz stoßen würde wie die Mitgliederbefragung vor einem Jahr bei den Mitgliedern, so sollte sich die SPD in Zukunft weder um sich noch um die Demokratie in diesem Lande Sorgen machen müssen.

1994-03-16_aufbruchstimmung

Aufbruchstimmung

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