Streit ums Politische

»Was, wenn wir falsch lagen«

Heinz Bude im Gespräch mit Ingolfur Blühdorn

»What if we were wrong?«

Die Barack Obama zugeschriebene Frage richtet sich an ein linkes, liberales und progressives Milieu.

Was wäre, wenn wir entdecken würden, dass die Trägergruppen des emanzipativen Projekts und der ökologischen Agenda nicht nur in die Defensive geraten sind, sondern zudem nur noch eine Minderheit ohne Macht und Einfluss wären?

Die Verschiebung der Deutungshoheit ist mit Händen zu greifen.
Hat die große Regression gesiegt?
Im ersten Gespräch der diesjährigen Reihe befragt Heinz Bude den Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn zur Unhaltbarkeit unseres Weltzustandes: Das vorherrschende Modell einer nicht-nachhaltigen Weltbeherrschung führt in den Abgrund, während das emanzipative Gegenmodell und die ökologische Agenda die meisten Menschen abschreckt.

In den Augen vieler hat sich die große Alternative als Lebenslüge eines Milieus entpuppt, das der Polykrise von heute ebensowenig entgegensetzen kann wie alle anderen.


https://www.schaubuehne.de/de/seiten/streit-ums-politische-202526was-wenn-wir-falsch-lagen.html


Zwischen Diagnose und Gestaltung:

Vom Interregnum zur evolutionären Kulturentwicklung

Das Gespräch zwischen Heinz Bude und Ingolfur Blühdorn an der Schaubühne Berlin offenbart eine zentrale Diagnose unserer Zeit, die als Ausgangspunkt für die in "Kairos kontra Krise" entwickelte Transformationsperspektive verstanden werden kann.Blühdorns Konzept der "doppelten Unhaltbarkeit" beschreibt präzise jenen Zustand, in dem sowohl die etablierten gesellschaftlichen Arrangements als auch das ökoemanzipative Gegenprojekt der letzten Jahrzehnte an ihre Grenzen gestoßen sind.

Diese Diagnose entspricht exakt dem evolutionären Verständnis kritischer Übergangsphasen, in denen bisherige Anpassungsstrategien ihre Funktionalität verlieren, ohne dass bereits neue, stabile Muster verfügbar wären.

Blühdorns Begriff des "Interregnums" verweist auf jene historischen Zwischenzeiten, die aus entwicklungsbiologischer Sicht als Möglichkeitsräume für grundlegende Neuorganisation verstanden werden können.
Was er als "traumatische Erfahrung" der Erkenntnis beschreibt, dass "wir es nicht geschafft haben", markiert den notwendigen Übergang von einer sachlich-analytischen Bewertung vergangener Strategien zu neuen Gestaltungsansätzen.

Die zentrale Verbindung zwischen Blühdorns Analyse und der evolutionären Kulturentwicklungsperspektive liegt in der Erkenntnis, dass weder eine defensive Verteidigung überkommener Positionen noch eine Flucht in vereinfachende Polarisierungen tragfähige Lösungen darstellen.

Blühdorns Warnung vor der "Trotzhaltung", die "Nebenwirkungen weiter verstärken würde", entspricht der Einsicht, dass Entwicklungsprozesse unter Stressbedingungen zu dysfunktionalen Reaktionsmustern neigen, die den eigentlichen Transformationsbedarf verschleiern.

Hier setzt die Perspektive der evolutionären Kulturentwicklung konstruktiv an: Anstatt in der Diagnose der Unhaltbarkeit zu verharren, eröffnet sie Wege zur systematischen Nutzung jener neurobiologischen und sozialen Potentiale, die besonders in Übergangsphasen aktivierbar sind.
Die Jugendphase als evolutionärer Motor bietet dabei nicht nur ein biologisches Entwicklungsmodell, sondern auch einen konkreten Ansatzpunkt für die Gestaltung neuer kultureller Muster.

Blühdorns Beobachtung, dass die heutigen Gegner des ökoemezipativen Projekts "enorm viel übernommen haben" von dessen Ansprüchen auf kritisches Selbstdenken und Emanzipation, verweist auf die Notwendigkeit, diese ursprünglich progressiven Impulse in neue, funktionale Entwicklungsrichtungen zu kanalisieren.
Die von ihm beschriebene "Emanzipation von der Emanzipation" kann als Übergangsphänomen verstanden werden, das den Weg zu einer reifen Form kollektiver Selbstgestaltung ebnet – einer Form, die sowohl die Errungenschaften vergangener Emanzipationsbewegungen würdigt als auch deren dysfunktionale Nebenwirkungen überwindet.

Der entscheidende Schritt von der Diagnose zur Gestaltung liegt in der Aktivierung jener psychischen Systemfunktionen, die kreative Lösungsgenerierung ermöglichen.

Während Blühdorns Analyse notwendigerweise in einer ernst-kritischen Grundhaltung verharrt, die Fehler identifiziert und Warnungen ausspricht, erfordert evolutionäre Kulturentwicklung den Übergang zu entspannt-explorativen und freudig-experimentellen Modi kollektiver Problembearbeitung.

Die Frage "What if we were wrong?" transformiert sich damit von einer lähmenden Selbstbezichtigung zu einer produktiven Neugier auf alternative Entwicklungsmöglichkeiten.
Der Kairos-Moment entsteht dort, wo die Erkenntnis der Unhaltbarkeit bisheriger Muster nicht zu Resignation, sondern zur bewussten Gestaltung neuer kultureller Entwicklungspfade führt.

Dies erfordert jedoch die systematische Integration verschiedener Erkenntnisebenen:

  • die neurobiologischen Grundlagen individueller Entwicklungsfähigkeit,
  • die sozialdynamischen Prinzipien kollektiver Intelligenz und
  • die institutionellen Voraussetzungen nachhaltiger Partizipation.

Blühdorns Mahnung, dass "weiter so keine Option" auch für das ökoemanzipative Projekt gelte, wird so zum Ausgangspunkt für einen iterativen Entwicklungsansatz, der weder die Errungenschaften der Vergangenheit verwirft noch in aussichtsloser Nostalgie verharrt.
Stattdessen nutzt er die gegenwärtige Krisenerfahrung als Lernchance für die Entwicklung adaptiverer, inklusiverer und resilienterer Formen kultureller Selbstorganisation.

Der Übergang von der diagnostischen zur gestaltenden Perspektive erfordert dabei eine grundlegende Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus: Anstatt primär zu analysieren, was nicht funktioniert, gilt es, systematisch zu erkunden, welche Entwicklungspotentiale in der gegenwärtigen Situation angelegt sind und wie diese aktiviert werden können.
Dies ist die zentrale Herausforderung, der sich die evolutionäre Kulturentwicklung stellt – die Transformation des Kairos-Moments von einer Zeit der Krise zu einer Zeit der bewussten kulturellen Neugestaltung.

Nachtrag vom 28.10. 2025

Der Tribalismus und seine Auswirkungen auf die Welt

Harvey Whitehouse
Könnte der Tribalismus die Rettung der Menschheit sein?

In dem Video "How tribalism shaped the world" von Harvey Whitehouse geht es um Gruppenidentität und persönliche Identität als zentrale Elemente des Tribalismus. Identität beeinflusst, wie Menschen über sich selbst denken und handeln. Ein wichtiges Konzept ist die Identitätsfusion, bei der persönliche und kollektive Identität eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig aktivieren. Diese Fusion hat weitreichende Auswirkungen auf Krieg, Politik und Revolutionen, da sie ein starkes Gefühl innerer Stärke, Unverwundbarkeit und Handlungsfähigkeit im Namen der Gruppe fördert. Die Entwicklung von frühmenschlichen Nahbeziehungen in Kleingruppen zu größeren Formen wie Nationalismus und religiösen Organisationen wird diskutiert. Heilige Kriege, die landwirtschaftliche Revolution und die langfristige gesellschaftliche Evolution spielen dabei eine Schlüsselrolle, da materielle Grundlagen, technologische Fortschritte und sakrale Werte zusammenwirken. Auch moderne Gewalt, Terrorismus und ideologischer Extremismus lassen sich besser verstehen, wenn man die Auswirkungen von Fusion, Bedrohungswahrnehmung und Feindbildern auf gewalttätiges Verhalten berücksichtigt. Daher ist es wichtig, politische Reden und autoritäre Rhetorik zu analysieren, um Anzeichen für eine mögliche Eskalation zu erkennen.

Der Aufstieg größerer und komplexerer Gesellschaften wurde hauptsächlich durch zwei Faktoren vorangetrieben: Landwirtschaft und Krieg. Beide Kräfte fördern die Bildung von Institutionen, Hierarchien und die Mobilisierung von Ressourcen.

Im Zentrum des Tribalismus steht das Identitätsgefühl, das sich aus persönlicher und Gruppenidentität zusammensetzt. Die Identitätsforschung zeigt, dass die meisten Menschen verschiedene Gruppenzugehörigkeiten haben und sowohl ihre persönliche als auch ihre Gruppenidentität im Alltag erleben. Wenn die Gruppenidentität betont wird, tritt die persönliche Identität in den Hintergrund, was als depersonalisierend beschrieben wird. Eine besonders starke Form der Gruppenbindung ist die Identitätsfusion, bei der persönliche und Gruppenidentität miteinander verschmelzen.

Die Fusion von persönlicher und Gruppenidentität führt zu einem inneren Gefühl von Stärke und Unverwundbarkeit. Fusionierte Personen sind bereit, alles für ihre Gruppe zu tun, sogar ihr Leben zu riskieren. Menschen werden durch prägende Erfahrungen oder den Glauben an gemeinsame Abstammung fusioniert. Diese Fusion ist eine extrem starke Form der Bindung, bei der Fusionierte bereit sind, Gewalt anzuwenden, wenn ihre Gruppe bedroht wird.

Die Forschung zeigt, dass geteiltes Leid an der Front die Fusion verstärkt. Studien mit US-Truppen in verschiedenen Kriegen legen nahe, dass intensives Leiden zu einer stärkeren Bindung innerhalb der Einheit führt. Identitätsfusion entstand in kleinen Gemeinschaften, breitete sich aber über Jahrtausende zu großskaligen Phänomenen wie Nationalismus und transnationalen Religionen aus. Die Bildung komplexer Gesellschaften wurde durch Landwirtschaft und Kriege vorangetrieben, wobei militärische Kohäsion in Religionen überging und Menschen an sakrale Werte band.

Die Erkenntnisse aus der Forschung helfen, heutige Gewalt besser zu verstehen und potenzielle Terroristen frühzeitig zu identifizieren. Die Analyse der Sprache politischer Aktivisten zeigt, dass Fusion mit der Eigengruppe, Bedrohungserleben, Dämonisierung des Feindes und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung entscheidende Faktoren sind. Diese Erkenntnisse werden bereits von Nachrichtendiensten und Internetplattformen genutzt, um potenzielle Täter zu erkennen.

Es stellt sich die Frage, ob tribalistische Dynamiken genutzt werden können, um Brücken zwischen verfeindeten Gruppen zu bauen. Gezielte Rhetorik, die gemeinsames Leid betont, kann zu Einstellungsänderungen führen und die Annäherung zwischen Gruppen fördern.

Es ist wichtig, die Kraft tribalistischer Bindungen konstruktiv zu nutzen, um Kooperation zu stärken und Gewaltspiralen zu durchbrechen. Praktische Anwendungen in Politik, Diplomatie und zivilgesellschaftlichen Kontexten erscheinen vielversprechend. Unsere evolutionären Bindungsmechanismen haben die Geschichte stark geprägt und könnten, richtig eingesetzt, zu Lösungen beitragen.

Whitehouse, H. (2024). Inheritance: The Evolutionary Origins of the Modern World. Belknap Press. ISBN 9780674291621.
https://www.hup.harvard.edu/file/feeds/PDF/9780674291621_sample.pdf

Zwischen Diagnose und Gestaltung

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