DIE ZEIT Nr. 25;    12. Juni 1992


Wir haben die Parteien, die wir verdienen

Politik ohne Visionen

Von Bernd Guggenberger

BIELEFELD. — Die Anzeichen mehren sich, das so erfolgreiche Modell der großen Volkspartei könnte sich als Auslaufmodell entpuppen. Dabei ist das, was als Erklärung für die grassierende "Parteienverdrossenheit" Schlagzeilen macht — die "Feudalisierung" des politischen Systems und die Bereitschaft einer parasitären Politikerklasse zur ungeschönten "Vorteilsnahme" —noch nicht einmal das Entscheidende.

Viel wichtiger ist, daß die Parteien in der Wahrnehmung des Bürgers, vor allem im Hinblick auf ihre Zukunftskompetenz, abgewirtschaftet haben. Während der Systembedarf an Führung dramatisch anwächst, kungeln Parteienvertreter um Pfründen, Posten, Diäten und Ruhegehälter.

Und doch ist das Spielchen, hie der gute Bürger, da die schlechten Parteien, allzu wohlfeil, als daß es überzeugen könnte. Wir haben die Parteien, die wir verdienen. Die von Volksparteien geprägte repräsentative Demokratie beruft nicht die Überdurchschnittlichen zur Herrschaft, sondern die überdurchschnittlich Durchschnittlichen. Nur wenn wir den (eigenen) Durchschnitt anheben, steigt auch das Niveau des Politischen. Es ist schon so: Wir haben nicht nur mäßige Politiker, die vor der Zukunft versagen, wir sind auch ein mäßiges Volk, das sich nur zu gerne versagt.

Vielleicht muß man den politischen Prozeß überhaupt stärker als ein Wechselspiel zwischen Bewegungs- und Gestaltungspolitik beschreiben. Soziale Bewegungen sind "Inhalte ohne Formen" (Claus Offe) und umgekehrt sind Parteien erstarrte Formen, denen die Botschaft abhandengekommen ist. In dieser Konstellation aber ist das eine fast so schlimm wie das andere: die Bürger, die nichts sehen oder sich nicht wehren, und die Parteien, die nichts tun.

Gewiß versagen die Parteien, weil sie die vorausschauende Kraft des Politischen ebenso vermissen lassen wie den Mut, dem Bürger das Zumutbare zuzumuten. Hier versagt aber auch der zur politischen Kontrolle berufene Bürger, der den Politikern viel zu selten mit seinen Besorgnissen und Fragen Rechtfertigungszwänge setzt.

Welche Chancen einer politisch motivierenden Neuorientierung hätte hier das Ende des Kalten Krieges den Parteien eröffnen können! Doch statt einer Welle des Aufbruchs erleben wir nur schwarze Resignation und Katzenjammer. Wenn es so etwas gibt wie eine stimmungspolitische Verantwortung der Parteien, haben sie nie mehr versagt als in den letzten zweieinhalb Jahren.

Ohne Visionen ist auf den Trümmern der zerborstenen Blöcke die neue eine Welt nicht zu errichten. Wir alle — die Macher wie die Konsumenten der Politik — fühlen uns von den Problemen heillos überfordert. Es fehlt der Strahlpunkt, von dem her die Politik, jenseits drohender Krisen und Katastrophen, sich wieder zum gestaltbaren Kosmos fügte, mit eigenen Gravitationsgesetzen für wichtig und zweitwichtig, für sofort und später.


Bernd Guggenberger ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Deutschen Instituts für angewandte Sozialphilosophie in Bergisch-Gladbach.


1992_06_politik_ohne_visionen (PDF-Datei mit angehängtem "Leserbrief")

Politik ohne Visionen
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